Wer zusammen mit Björn durch die Produktionsanlagen der Firma Renolit in Worms läuft, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Das liegt an den gigantischen Maschinen, die im Fünf-Schichten-Betrieb an sieben Tagen der Woche kilometerweise Kunststofffolien auswalzen, diese zu mehreren Schichten verkleben, das millimeterdünne Material auf- und wieder abwickeln, um es zu bedrucken, zu prägen und in Form zu schneiden.
Seine Leidenschaft bringt Björn ins Ausland
In erster Line jedoch fasziniert der frischgebackene Verfahrenstechniker - durch seine Umsicht bei der Betriebsführung und seine allgemeinverständlichen wie spannenden Erklärungen. Dieser Fachmann liebt seinen Beruf und freut sich jetzt auf seine ersten internationalen Auslandseinsätze. In diesem Job berät er Kunden bei technischen Problemen.
Geschäftssprache vor Ort, ob Türkei, Russland oder China, ist natürlich Englisch. Dafür hat der 32-Jährige in den vergangenen Monaten Fachvokabeln gebüffelt und an innerbetrieblichen Weiterbildungen teilgenommen. Außerdem schaut er sich nun seine Lieblingsfilme in Englisch an, um seine Sprachkenntnisse weiter zu bessern.
Ein Streber auf Karriere oder späte Erkenntnis?
So viel Eigeninitiative? Björn war bestimmt ein fleißiger Schüler. Nein, war er nicht. Eher das Gegenteil: „Meinen Hauptschulabschluss habe ich gerade so geschafft“, erzählt Björn. „Was mich nicht interessierte, war mir egal.“ Lieber trifft sich der 16-Jährige mit seinen Kumpels zum Abhängen. „Klar wollte ich einen Beruf erlernen. In einem Betrieb arbeiten, was schaffen, eigenes Geld verdienen“, beschreibt er seine Träume. Die sind inzwischen sogar wahr geworden.
Allerdings gestalten sich die ersten Gehversuche ins Berufleben äußerst frustrierend. Nicht eine einzige Einladung zum Vorstellungsgespräch erhält er auf seine zahlreichen Bewerbungsschreiben. „Kein Wunder bei den Noten“, weiß Björn heute. Als es doch noch mit einem Ausbildungsvertrag zum Elektroinstallateur bei einem Ein-Mann-Betrieb klappt, währt die Freude nicht lange.
Bereits in der Probezeit wird er entlassen. „Ich war am Boden zerstört.“ Doch sein Vater tröstet ihn und hält zu seinem Sohn. Während Björn eher lustlos weiterhin in die Berufsschule geht - die Schulpflicht dauert bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs - übt die Mutter sanften Druck aus.
Sie erzählt ihrem Sohn vom CJD in Worms. CJD steht für Christliches Jungenddorf. Bei der Organisation handelt es sich um einen Bildungsträger, der nach eigenen Angaben seit den 80er Jahren „jungen und erwachsenen Menschen Orientierung und Zukunftschancen bietet“.
„Obwohl ich keine Lust hatte, wieder die Schulbank zu drücken, bauten mich die Argumente meiner Mutter auf“, sagt Björn. Am meisten habe ihn ihre Aussage gelockt: „Junge, es gibt auch ein bisschen Geld.“
Das Förderprogramm dauert ein Jahr: Schule und Praktikum im Wechsel. „Die Lehrkräfte beim CJD haben sich wirklich toll um mich gekümmert. Sie halfen mir beim Schreiben von Bewerbungen, übten mit mir Gesprächsführung und arbeiteten an der Verbesserung meiner Allgemeinbildung.“
Sehr gut kann sich Björn an das erste dreimonatige Praktikum – eines von vielen anderen Praktika – bei Renolit erinnern. „Es war sehr anstrengend. Aber ich habe mich bewährt und es hat Spaß gemacht“, berichtet er noch heute voller Stolz.
„Und dann hat es Klick gemacht“, beschreibt er seine damaligen Gefühle. „Es gibt zwar kein Geld bei einem Praktikum. Aber du musst jetzt was machen, wenn du da rein willst.“ So entspricht der Kunststoffhersteller Björns Bitte um Verlängerung des Praktikums für zwölf Monate. Nach diesem Jahr geht es noch einmal für drei Monate in die Schule. Dort raten ihm die Lehrer, bei Renolit eine Beurteilung seiner Praktikumszeit anzufordern. Als er diese in den Händen hält, brennt sich der Satz, "Bewirb dich", in seinem Kopf ein. Gemeinsam mit den CJD-Lehrern übt er für den Einstellungstest. Mit Erfolg, denn der Hauptschüler schließt diese Prüfung mit bestem Ergebnis ab. Drei Jahre dauert die Ausbildung zum Verfahrensmechaniker. Björn wird nach Abschluss der Ausbildung von Renolit übernommen.
An dieser Stelle könnte die Geschichte vom Spätzünder, der die Kurve bekommt, zu Ende sein. Ist sie aber nicht.
Fünf Jahre später, davon ein Jahr lang am Kalander (das sind die Maschinen, die aus einer erhitzten Pulvermischung den Kunststoff auswalzen) und vier Jahre in der Prägerei (dort bekommt der glatte Kunststoff eine geriffelte Oberfläche) wächst bei ihm der Wunsch nach einer Weiterbildung zum Techniker - neben dem Schichtdienst. Die Technikerschule für den Fachbereich Kunststoffe liegt zu weit von Worms entfernt. Deshalb verabschiedet sich Björn - aus praktischen Überlegungen - von diesem Berufsziel.
Aber die Ausbildung zum Verfahrenstechniker an der Berufsbildenden Schule Technik I in Ludwigshafen könnte zu schaffen sein. Er spricht mit dem Personalchef bei Renolit über sein Vorhaben und natürlich mit dem Leiter der Prägerei - wegen der Arbeitszeiten. Denn der Stundenplan nimmt keine Rücksicht auf wechselnde Arbeitszeiten.
Nachdem seine Vorgesetzten Björn grünes Licht geben, beginnt eine echte Doppelbelastung: Vier Jahre lang drückt er Montag bis Donnerstag von 17.30 bis 20 Uhr nach Feierabend die Schulbank.
„Ich habe so gut wie jede Minute der Freizeit genutzt. Ob am Arbeitsplatz oder daheim und besonders am Wochenende. Am schlimmsten waren die letzten sechs Monate.“
Dieses Durchhaltevermögen kommt nicht von ungefähr. Es ist über die Jahre langsam gewachsen. Denn bei seiner Aufholjagd vom jugendlichen Abhänger zum erfahrenen Spezialisten erlebt er ein Wechselbad der Gefühle - zwischen bitterer Enttäuschung und hilfreicher Motivation. Immer wieder setzen sich Menschen für ihn ein, die ihm Mut machen, einen weiteren Anlauf zu nehmen, oder Vorgesetzte, die ihn bei seinen Anstrengungen unterstützen.