Normalerweise tragen Chemikanten beim Arbeiten ihre Schutzbrille. Und, wenn nötig, darunter ihre Sehhilfe oder auch Kontaktlinsen. Johanna Nixdorf ist heute noch besser ausgerüstet. Die 17-Jährige, derzeit im zweiten Jahr ihrer dreieinhalbjährigen Ausbildung zur Chemikantin bei der Schill & Seillacher Chemie GmbH im sächsischen Pirna, sieht mit ihrer AR-Brille sogar wesentlich mehr.
Die Technologie der Augmented Reality (AR) erweitert Realitäten und versorgt uns in der realen Welt mit Zusatzinformationen, die wichtig für das Verständnis von Prozessen sind. Bereits im ersten Ausbildungsjahr hatte Johanna erstmals Gelegenheit, eine AR-Brille in der Trainingsanlage an der Sächsischen Bildungsgesellschaft Dresden (SBG) zu testen.
„Einzigartige Erfahrung für mich“
Als die eigentliche Übung bereits abgeschlossen war, platzte in der Anlage ein Schlauch. Johanna erhielt spontan die Gelegenheit, diesen unter Einsatz der AR-Brille auszutauschen. „Das war eine einzigartige Erfahrung für mich, zumal ich so etwas vorher noch nie gemacht hatte“, schildert sie die Situation. Mit dieser Brille kann sie gleichzeitig die Realität sehen und vom Ausbilder – der mitguckt und mithört – eingeblendete Hilfen und mündliche Anweisungen empfangen.
Mit der audiovisuellen Hilfe des zugeschalteten Ausbilders war es kein Problem, den Schlauch rasch zu reparieren. Gerade vor dem Hintergrund, dass vieles in der täglichen Arbeit mittlerweile PC-gesteuert abliefe, glaubt sie, dass es vorteilhaft wäre, wenn der Einsatz der AR-Brille zu einem festen Bestandteil der Ausbildung würde. Ganz abgesehen davon ist seit August 2018 die Wahlqualifikation (WQ) „Digitalisierung und vernetzte Produktion“ in der Chemikanten-Ausbildung verankert. Ab Lehrjahresbeginn 2020 gilt das auch für Laborberufe wie Chemie- und Biologielaborant.
Wirklich begreifen
„Mir hat es geholfen, das Ganze nicht nur zu erleben, sondern es wirklich zu begreifen. Das war sehr motivierend für mich“, berichtet Johanna. Und welche Rolle dies in der Berufsbildung spielen kann, zeigen die Ergebnisse des EU-Projekts AR4VET (Augmented Reality für die berufliche Bildung), das die SBG in den Jahren 2017 bis 2019 gemeinsam mit europäischen Partnern durchgeführt hat.
Ziel des Projekts mit Partnern aus den Niederlanden, Finnland, Slowenien und Zypern war die Erarbeitung innovativer Lehr- und Lernkonzepte zum Einsatz von AR in der Ausbildung. Bislang sind derartige Angebote eher selten. AR4VET will diese Lücke schließen und so zur Entwicklung einer Industrie 4.0 beitragen. Azubis, Ausbilder und Lehrende in der Berufsbildung brauchen zunehmend digitale Kompetenzen, um mit den technologischen, pädagogischen und sozialen Entwicklungen in der Arbeitswelt Schritt zu halten.
Leitlinien für AR im Theorie- und Praxisunterricht erarbeitet
„Das Tolle ist, dass wir es geschafft haben, das Thema AR aus der Nerd-Ecke zu holen und in bestehende Lehr- und Lernkonzepte zu integrieren“, erläutert Jens Hofmann, Ausbilder in der SBG und Leiter des Projektes AR4VET. „Als Lernort für die praktische Ausbildung sind wir bestrebt, insbesondere unseren Kunden, den Unternehmen, innovative Entwicklungen zu präsentieren und derartige Themen sowohl in die Erstausbildung als auch in die Weiterbildung einzubringen.“
So entstanden beispielsweise Leitlinien zur Anwendung von AR im Theorie- und Praxisunterricht, ein strukturiertes Blended Learning-Angebot für das Bildungspersonal und ein Best-Practice-Handbuch für den Einsatz von AR in der Berufsbildung. „Wir haben uns überlegt, was wirklich sinnvoll ist, und sind zu relativ einfachen Szenarien gekommen“, unterstreicht Hofmann.
Er zeigt Schulen und Ausbildenden anhand konkreter Szenarien auf, welche Methoden sich für die Praxis eignen. Der Einsatz von AR-Brillen in Unterricht und Ausbildung ermögliche neue Lehr- und Lernformen und mache das Lernen und Arbeiten attraktiver. Zudem könne mit Hilfe von AR die Komplexität der Prozesse gut nachvollziehbar abgebildet und „gemeinsam“ durchlaufen werden.
Mehr Spaß mit der Ausbildung
In der Praxis kann dies in der SBG-eigenen Trainingsanlage, einem Verfahrenslabor für chemische Prozesse, eingeübt werden. Der Fokus liegt dabei auf dem so genannten Remote-Training, das eine audiovisuelle Anweisung der Auszubildenden in Echtzeit erlaubt und so deren Handlungswissen steigert. Das heißt: Während die Azubis sich mit der AR-Brille in der erweiterten Realität bewegen, verfolgen ihre Ausbilderin oder ihr Ausbilder die Handlungen am Desktop und begleiten diese entsprechend. Hinzu kommt die Chance, über Lernvideos den selbstständigen Umgang mit Geräten und Prozessen einzustudieren, zum Beispiel im Chemielabor.
„Indem wir die Arbeits- und Ausbildungsrealität damit anreichern, erreichen wir einen Dialog zwischen den Lernenden“, betont Hofmann. Er ergänzt: „Abläufe werden transparenter, die Auszubildenden verstehen, wann und warum ein Fehler auftritt.“ Der Spaß an der Ausbildung und das Interesse an den Zusammenhängen wachse bei den Azubis enorm. Das kann Johanna Nixdorf nur bestätigen. Und ihre Ausbildungsergebnisse unterstreichen das.