Geschichte der Chemie 6: Staudinger, der Spott und die Polymerchemie

Kategorie: Stories

Hermann Staudinger wurde jahrzehntelang für seine Forschung zur Polymerchemie verspottet. Er ließ sich nicht beirren – was ihm schließlich den Nobelpreis einbrachte.

Hermann Staudinger war ein deutscher Chemiker und Nobelpreisträger. In der Polymerchemie gelang ihm der Durchbruch (Foto: Wikipedia, Gemeinfrei)

Hermann Staudinger war ein deutscher Chemiker und Nobelpreisträger. In der Polymerchemie gelang ihm der Durchbruch (Foto: Wikipedia, Gemeinfrei)

Hermann Staudinger wurde am 23. März 1881 in Worms geboren. Sein Vater war Lehrer am Gymnasium. Bereits als Knirps interessierte Staudinger sich für Pflanzen. Die Leidenschaft hielt an, was ihn dazu brachte, nach dem Abi 1899 ein Botanikstudium zu beginnen.

Hermann Staudinger erhält Doktortitel mit 22

Sein Vater riet dem jungen Mann dagegen, sich mit der Chemie zu beschäftigen – er war überzeugt davon, dass sich so die Rätsel in der Botanik besser verstehen ließen. Hermann Staudinger hörte auf den Papa und studierte Chemie in Halle. Mit gerade mal 22 Jahren promovierte er.

Kurz darauf machte Staudinger bereits seine erste große Entdeckung: die Verbindungsklasse der reaktionsfreudigen Ketene. Mit 26 Jahren wurde er mit einer Arbeit darüber zum Professor habilitiert. 

Die TU in Karlsruhe warb den jungen Überflieger an. Lange blieb er allerdings nicht dort, 1912 verschlug es Staudinger nach Zürich. Er forschte dort inmitten von weiteren talentierten Köpfen: So arbeitet er mit den späteren Nobelpreisträgern Leopold Ruzicka und Tadeus Reichstein zusammen.

Krieg macht pragmatisch

In der Zeit des Ersten Weltkriegs widmete der Wissenschaftler sich nicht nur seiner Grundlagenforschung – seine Arbeit wurde auch ziemlich pragmatisch: Staudinger beschäftigte sich mit der Suche nach Ersatzstoffen.

Naturbasierte Produkte wie Gewürze oder Kaffee waren zur Kriegszeit nur schwer zu bekommen. Staudinger stellte daher synthetisches Pfeffer- und Kaffeearoma her. Letzteres wurde jahrelang in der Schweiz industriell hergestellt.

Die Polymerchemie - Auf zu neuen (umstrittenen) Ufern

Vor seinem 40. Geburtstag war Hermann Staudinger bereits einer der führenden organischen Chemiker. Trotzdem wandte sich der Wissenschaftler von diesem Feld ab und widmete sich der Polymerchemie. Das Forschungsfeld war ziemlich umstritten – viele seiner Kollegen wollten damit nichts zu tun haben.

Im Jahr 1920 landete Staudinger seinen großen Wurf und legte das Fundament für die Kunststoffchemie. Er beschrieb, dass Naturfasern, Gummi und Kunststoffe aus sehr großen Molekülen aufgebaut sind – den sogenannten Makromolekülen oder Polymeren. Die Verknüpfung kleiner Molekülbausteine, die praktisch wie Perlen an einer Kette aufgereiht sind, bezeichnete er als Polymerisation.

Der Wissenschaftler postulierte in seinen Abhandlungen, dass die außergewöhnliche Zugfestigkeit und Elastizität der hergestellten Polymere das Ergebnis dieser großen Länge ihrer Moleküle sind. Ein ziemlich revolutionäres Konzept, das von vielen seiner Kollegen heftig angezweifelt wurde: Sie lehnten die Existenz solcher Riesenmoleküle ab – so sehr, dass Hermann Staudinger sogar Angriffen und Anfeindungenausgesetzt war.

Der „undeutsche“ Forscher

1926 ging Staudinger nach Freiburg im Breisgau, um ein Labor an der dortigen Universität zu leiten. Seine Berufung war damals politisch umstritten – man warf Staudinger „undeutsches“ Verhalten vor, weil er ein erklärter Gegner des Ersten Weltkriegs war. Er hatte den Einsatz von chemischen Waffen kritisiert und das deutsche Oberkommando in Berlin dazu aufgefordert, das Blutvergießen zu beenden.

Berufen wurde Staudinger trotzdem. Und auch von der Polymerchemie ließ er sich nicht abbringen. So publizierte Staudinger 1932 sein Lehrbuch ,,Die hochmolekularen organischen Verbindungen Kautschuk und Cellulose“. Es sollte für viele Jahre als Bibel der Polymerwissenschaften gelten.

Staudinger und die Nazis

Zu Beginn der NS-Diktatur stand dem Forscher dann erneut Ärger ins Haus: Der bekannte Freiburger Philosoph und Nazi Martin Heidegger war zu dieser Zeit Rektor der Uni – und Staudingers Einstellung zum Krieg passte ihm ganz und gar nicht. Heidegger betrieb also ein Amtsenthebungsverfahren gegen Staudinger.

Der wurde von der Gestapo vernommen und musste ein Rücktrittsgesuch unterschreiben. Das durfte Staudinger aber zurückziehen, nachdem er sich den Nazis gegenüber Schweigen verordnet hatte. Doch nicht nur aufgrund dieser Selbstbeschränkung wurde das Forschen für Staudinger schwieriger: Er unterlag einem Ausreiseverbot – und das Geld für seine Forschung sprudelte in der Kriegswirtschaft nicht unbedingt.

Den Spott loswerden

Auch wenn die Forschungswelt Staudingers Ideen lange anzweifelte – in der Industrie wurden sie schnell als zukunftsweisend erkannt. Zu Recht: Sorgte er damit doch bald für das rasante Wachstum der industriellen Kunststoffproduktion. Zunächst konzentrierte sich Staudinger aber darauf, sein Konzept experimentell zu beweisen. Das gelang ihm, und die Polymerchemie feierte ihren Durchbruch.

1940 wurde ein Institut für Makromolekulare Chemie in Freiburg gegründet. Es war damals die erste europäische Forschungseinrichtung, die sich ausschließlich der Untersuchung von Makromolekülen in Natur und Technik widmete. 1944 wurde das Labor bei einem Bombenangriff zerstört, aber wiederaufgebaut.

Späte Anerkennung

Im Dezember 1953 erhielt Staudinger für seine Verdienste den Nobelpreis für Chemie. Verliehen wurde ihm die Medaille mit folgenden Worten:

„Vor mehr als 30 Jahren haben Sie schon die Ansicht vertreten, dass ein chemisches Molekül alle nur denkbaren Größen aufweisen kann, und dass solche Makromoleküle eine herausragende Rolle in unserer Welt spielen. Diese Ansicht haben Sie auf einer logischen Basis begründet (…), in diesem Zusammenhang haben Sie Argumente vorgebracht, die kein organischer Chemiker außer Acht lassen kann.“

Eine schlaue Frau im Rücken

Staudingers Erfolg war dabei nicht allein sein Verdienst, sondern auch das seiner zweiten Ehefrau Magda. Die wesentlich jüngere Wissenschaftlerin forschte mit ihm zusammen, was er auch in seiner Rede in Stockholm zum Ausdruck brachte.

Magda Staudinger war eine ähnlich inspirierende Persönlichkeit wie ihr Mann: Sie war promovierte Naturwissenschaftlerin und beschäftigte sich schon zur damaligen Zeit mit Umweltfragen. Zudem arbeitete sie für die Unesco. Zwar erhielt sie für ihr Engagement keinen Nobelpreis, aber immerhin das Bundesverdienstkreuz.

Meilensteine der Polymerchemie

Staudinger leitete das Institut für Makromolekulare Chemie in Freiburg bis 1956. 1999 wurde es von der Amerikanischen Chemischen Gesellschaft als Ursprung der Polymerwissenschaften geehrt.

Das hat Hermann Staudinger allerdings nicht mehr mitbekommen. Er starb 1965 in Freiburg – der Stadt, die er zu einem bedeutenden Forschungsstandort seiner Disziplin gemacht hatte.
 

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